Art Deco in Casablanca

 

Casablanca ist nicht wirklich ein Touristenmagnet, kein Wunder! Es ist ein Millionenmoloch, es gibt keine malerische Medina, der Smog ist allgegenwärtig, die Autos sind viel zu viele, ebenso wie die Baustellen und all das, was den eigentlichen Zauber von Marokko ausmacht, wurde in Casa ausgespart. Nein, wirklich: Casa ist eine durch und durch unschöne Stadt – auf den ersten Blick. Die wirklich schönen Ecken entdeckt man erst auf den zweiten Blick – manchmal braucht es dafür auch einen dritten oder vierten. Bei mir war es der fünfte Besuch in Casablanca, der mir die Augen öffnete. Naja, was heißt Augen öffnete. Aber bei meinem fünften Besuch war ich bereit dafür, das Schöne der Stadt zu sehen und zu suchen – und ich wusste auch genau wo. Schließlich hatte ich gerade erst eine Arte Dokumentation über ein Jugendstilgebäude in der Nouvelle Ville in Casablanca gesehen. Und auf die Suche nach diesem Haus, dem Immeuble Assayag, wollte ich gehen.

 

Etwas verwittert sah es im Fernsehen aus, aber wie der Beitrag mich lehrte, war es ein tolles Beispiel für die Architektur der 1920er Jahre in Casablanca. Es erinnerte an ein Schiff von Außen und symbolisierte die Nähe zum Hafen. Im Stil an Bauhaus orientiert, war es einfach strukturiert und nach Außen hin geöffnet. Das war selbst für die damalige Zeit sehr avantgardistisch. Das wollte ich sehen! Nun, um es kurz zu machen: Ich habe das Gebäude nicht gefunden. Allerdings wurde ich durch die Suche in diesem Viertel von Sekunde Eins an angefixt von der Architektur der Nouvelle Ville und ich begann, mich mit seiner Geschichte, vor allem aber dem Baustil zu befassen.

 

Die Nouvelle Ville de Casablanca liegt zwischen der Place des Nations Unies und der Place Mohammed V und zieht sich von dort gen Osten. „Nouvelle Ville“ ist dabei ein irreführender Ausdruck. Denn neu ist hier nichts. Nur neuer als die ältesten Bauten von Casablanca. Aber eigentlich ist die Nouvelle Ville de Casablanca eines der ältesten Viertel der Stadt. Es entstand Anfang des 20. Jahrhunderts. Frankreich hatte Casablanca gerade niedergebombt und man brauchte einen französischen Administrator für ihre Protektoratsmacht, der den Menschen vermitteln sollte, dass Frankreich ihnen eigentlich wohlgesonnen ist. Die Wahl fiel auf General Hubert Lyautey, der perfekt dafür geeignet schien. Er liebte Marokko und seine Architektur und gilt auch im Nachhinein als Förderer und Gönner des Landes. 1912 war er nach Marokko gekommen und begann gleich mit seiner Arbeit. Er ließ Städte wiederaufbauen, und zwar neue Städte, neben den alten. Er ließ nicht zu, dass die Medinas verändert wurden – ob zu deren Schutz oder für den Komfort der Franzosen….. wer weiß das schon. Doch so entstanden in ganz Marokko außerhalb der Medinamauern sogenannte Nouvelles Villes, Neue Städte, Orte, an denen die Franzosen lebten und arbeiteten.

 

Casablanca war für Lyautey eine der wichtigsten Städte Marokkos. Es war das Schaufenster Frankreichs zur Welt. Der Hafen war elementar für den Außenhandel und sicherte Frankreich – und damit Marokko – den Wohlstand. Die Nouvelle Ville Lyauteys wurde deshalb auch in die Nähe des Hafens gebaut. Mit der Place Mohammed V. ließ der neue Machthaber ein Zentrum erschaffen, das ein Spiegelbild der französisch-marokkanischen Allianz darstellen sollte, ein Brückenschlag zwischen beiden Kontinenten. Er ließ seinen Architekten freien Lauf bei der Planung und Gestaltung der Häuser – solange sie dabei den Brückenschlag vollzogen. Und für die Architekten war es das Eldorado. Hier konnte man all das ausprobieren, was das erstarrte alte Europa den Franzosen nicht zugestand. Es war das erste Mal, dass sich Architekten ohne Vorgaben und Beschränkungen ausdrücken durften. Es hieß nur: Befreit euch, baut los, Casablanca ist Eure Bühne! Und so begründete man hier, Anfang des 20. Jh., neue architektonische Stilrichtungen. Das europäische Art Deco der Protektoratszeit vermischte man mit der marokkanischen Liebe zur Geometrie und schuf damit etwas gänzlich Neues: Das maurische Art Deco, die Art Déco Mauresque. Und genau das habe ich gefunden, als ich durch die Nouvelle Ville lief.

 

Auf den ersten Blick erkennt man die Schönheit der Häuser nicht unbedingt. Man muss schon genauer hinschauen und vor allen Dingen den Kopf in den Nacken legen. Denn die schönsten Dekorationen finden sich meist weit oben. Vor allem in der Avenue Houman el Ftouaki und deren Verlängerung, der Rue Abdelkrim Diouri sowie in den Straßen rechts und links davon liegen prachtvolle Häuser. Wer einen Blick hineinwerfen möchte: In einigen der Jugendstilhäusern sind kleine, sehr einfache Hotels untergebracht. Weite Treppen, gußeiserne, offen Fahrstühle, Innenarchitektur aus den 1920er und 30er Jahren beherrschen die Lobbys. Je tiefer man ins Viertel gelangt, desto mehr taucht man ein in diese ganz besondere Welt. Und irgendwann ist Casablanca gar nicht mehr schrecklich. Ich zumindest kann hier, mitten in der Stadt, inmitten der hohen Häuserschluchten plötzlich den Lärm der Autos ausblenden, das Gedränge der Passanten, und das Chaos um mich herum. ich nehme dann den Smog nicht mehr wahr und bin einfach dort. Gefangen in der alten Pracht und im Charme der weißen Häuser, die leider, mehr und mehr verfallen. Allerdings – und das ist ein Lichtblick für Architekturfans! – hat sich vor wenigen Jahren eine Initiative von marokkanischen Architekten und Kunstliebhabern gegründet, die für den Erhalt und Renovierung dieser alten Häuser kämpft. Mit Erfolg. Viele der Häuser, die man retten konnte wurden unter Denkmalschutz gestellt – andere werden noch saniert. Doch leider kann man nicht alle retten. Oder will es nicht. Viele Jahre war hierfür der wichtigste Grund, die Erinnerung an die Franzosen verblassen zu lassen, heute jedoch spielen ganz andere Gründe eine Rolle. Denn die Grundstückspreise in Casablanca sind in die Höhe geschossen und natürlich hat man von einem Hochhaus in zentraler Lage sehr viel mehr als von einer alten Jugendstilvilla. Doch noch sind viele der alten Bauten da – und wer einmal in Casablanca ist, sollte sich ruhig mal die Zeit nehmen, die alte Nouvelle Ville zu erkunden. Und wenn man schon mal da ist: Dann sollte man auch die Wilaya an der Place Mohammed V. und das alte Postamt hier aufsuchen. Denn die Art Déco Mauresque hat hier besonders schöne Blüten getrieben.

 

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